Gleiche Chancen für alle – auch bei der Gesundheit?
Stellen Sie sich vor zwei Menschen leben in derselben Stadt – einer in einem Viertel mit Zugang zu Parks, Gesundheitskursen und ärztlicher Versorgung. Der andere wohnt zehn Kilometer weiter, in einer Umgebung mit schlechter Luft, kaum Freizeitangeboten und wenigen Gesundheitsressourcen. Beide leben im selben Gesundheitssystem. Aber: Haben sie dieselben Chancen, gesund zu bleiben?
Wenn wir ehrlich sind: Nein. Und genau hier beginnt das Thema Health Equity – also die Frage, wie gerecht Gesundheit in unserem Alltag verteilt ist.
Stefan Zipperer
Worum geht es bei Health Equity wirklich?
Health Equity bedeutet nicht, dass alle das Gleiche bekommen. Sondern: Alle bekommen das, was sie brauchen, um gesund leben zu können. Es geht um Gerechtigkeit, Solidarität und die Frage, ob unser Gesundheitssystem dazu beiträgt, Potenziale zu fördern – oder Ungleichheiten zu verstärken.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Health Equity als das Fehlen von „ungerechten, vermeidbaren und behebbaren Unterschieden im Gesundheitszustand zwischen Bevölkerungsgruppen“. Ziel sei, dass jeder Mensch sein volles Gesundheitspotenzial entfalten kann
Werktisch ‘Health Equity beim #Digitalwerk
Warum gibt es überhaupt einen ‘Signature-Artikel’ zu dem Thema? Lasst mich erklären, wie ich zu diesem Thema gekommen bin.
Vor einigen Jahren habe ich mir über Health Equity keine Gedanken gemacht. Dann haben wir zusammen mit Cornelia Wanke von den Healthcare Frauen das Thema Wechseljahre und BGF umgesetzt. Es war mit bis dahin nicht bewusst, dass unsere Medizin, viele Forschungsergebnisse und Anwendungsfälle – männlich – dominiert sind. Auch deswegen musste man “Wechseljahre” im Arbeitsumfeld erst mal aus der Tabuzone holen. Das haben wir gemacht und eine BGF-Kampagne zu Frauengesundheit & Wechseljahre entwickelt. Learning: BGF ist also teilweise einseitig und adressiert nicht alle relevanten Themen mit der gleichen Gewichtung.
Parallel haben wir einen Gesundsein-Führerschein konzipiert. Im Mittelpunkt: die fehlende Gesundheitskompetenz in weiten Teilen der Bevölkerung. Learning: Offensichtlich fehlt es an Bildungschancen und entsprechenden Angeboten. Prävention kann in der Breite aber nur funktionieren, wenn Menschen verstehen wie Gesundheit funktioniert.
Dann kam Bianca Flachenecker 😉
Auf dem #Digitalwerk der AOK Baden Württemberg haben wir uns über Health Equity ausgetauscht und sie konnte mich von der Wichtigkeit des Themas überzeugen – und so haben sich die Puzzleteile zusammengefügt. Seither “rutscht” der Health Equity-Ansatz mehr und mehr in unsere Konzepte und Programme. Bei uns ist sicher noch genug zu tun, aber wir haben das Thema “auf dem Schirm”.
Update 04/2025: Werktisch-Gespräche
Aus dem #Digitalwerk heraus haben sich verschiedene Formate entwickelt, in denen Gesundheitsthemen diskutiert und besprochen werden. Ich bin bei einem “Werktisch” dabei, in dem sich Interessierte um das Fokusthema Health Equity kümmern. Wir versuchen das Thema griffig und klarer zu machen, damit auch andere Player des Gesundheitssystems etwas damit anfangen können.
Meine Perspektive aus der Präventionsecke von Gesundheit Bewegt – und was ich bisher aus den Werktischdiskussionen mitgenommen habe:
- Health Equity hat ein ganzes Set an Facetten. Dazu zählen Begriffe wie: Solidarität, Gerechtigkeit, Chancen, Potentiale, Gestalten, Zukunft, Bildung, …
- Health Equity kann nicht einfach nur als Begriff im Raum stehen. Es braucht eine Vision, was wir damit erreichen wollen. Die Diskussion dazu läuft noch, als Zwischenfazit nutze ich: “Aktive Health Equity ist ein Grundelement für ein solidarisches und langfristig erfolgreiches Gesundheitssystem.”
- Reden ist gut, Taten sind besser. Zur Vision braucht es eine Business Mission. Für uns könnte das so lauten „Mit unseren digitalen Lösungen schaffen wir Zugänge: zu Wissen und Tools, damit alle Gesundheitspotentiale nutzen können.“
- Zur Mission kommen dann die Taten. Dazu mehr in den nachfolgenden Abschnitten.
Kommen wir zurück zum Thema.
Warum manche Menschen Prävention nicht nutzen können
Diese Frage ist zentral – egal ob es um betriebliche Gesundheitsförderung, kommunale Angebote oder digitale Prävention geht. Die Realität zeigt:
- Wer Schicht arbeitet, findet selten Zeit für Gesundheitskurse.
- Wer wenig verdient, hat einen schlechteren Zugang zu frischem Essen oder Bewegung.
- Wer die Sprache nicht versteht, fühlt sich nicht angesprochen.
- Wer viele Belastungen trägt, setzt Gesundheit oft hinten an.
Was brauchen diese Menschen, um gesünder zu leben? Und wie können wir Angebote schaffen, die genau dort ansetzen?
Gesundheit & Prävention konsequent in Lebenswelten denken
Den Health Equity-Ansatz zu nutzen heißt: Wir gestalten Gesundheitsangebote so, dass sie in reale Lebenswirklichkeiten passen. Verständlich, zugänglich, motivierend.
Wir sehen Health Equity deshalb als ein Gestaltungsprinzip. Unsere Angebote folgen dem Ziel, Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen zu erreichen – durch Einfachheit, Flexibilität und Orientierung.
5 Prinzipien für mehr Health Equity
Fünf Prinzipien für mehr Health Equity
- Zugang statt Anspruch: Wer teilnehmen darf, aber nicht kann, bleibt außen vor.
- Sprache vereinfachen: Gesundheit beginnt mit Verstehen.
- Vielfalt ernst nehmen: Alter, Kultur, Beruf und Alltag mitdenken.
- Lebenswelten berücksichtigen: Vom Büro bis zur Baustelle – Prävention muss flexibel sein.
- Daten nutzen, um besser zu begleiten: Nicht zur Kontrolle, sondern um zielgerichtet zu helfen.
Einige Maßnahmen setzen wir bereits konsequent um, andere befinden sich aktuell in der Weiterentwicklung. Hier ein Überblick:
Was wir bereits konkret umsetzen
Maßnahme 1: Tu was-Initiative
Unsere offene, kostenfreie BGF-Plattform GB|Work stellt Gesundheitswissen, Lernangebote und Challenges kostenfrei zur Verfügung. Einfach erklärt, klar strukturiert, direkt nutzbar – ohne Hürden.
So schaffen wir auf der Firmenebene für die vielen KMUs Teilhabe – unabhängig Budget, internen Ressourcen und Interesse von Krankenkassen.
Tu was: Eine Initiative, die BGF für Unternehmen neu denkt
Die Tu-was-Initiative bringt Prävention und Team-Building Maßnahmen in den Alltag kleiner und mittlerer Unternehmen – kostenfrei, praxisnah und sofort umsetzbar.
Maßnahme 2: Hybride Formate für alle Lebenslagen
Früher waren unsere Programm digital, heute sind unsere Angebote modular und hybrid: Ob Online-Video, Live-Seminar, mobile Aktion oder Chat-Coach – jede*r kann teilnehmen, unabhängig von Zeit und Ort.
Was wir derzeit aufbauen und weiterentwickeln
Maßnahme 3: Health Guide – Der Wegweiser im Gesundheitsalltag
Mit dem Health Guide entsteht ein KI-gestützter Coaching-Baustein, der Menschen in ihrer individuellen Lebensrealität abholt.
Beispiel: der Gesundseinführerschein – ein niedrigschwelliges Lernformat mit einfachen Modulen zu Themen wie Blutdruck, Ernährung, Bewegung oder Schlaf – angepasst an Alter, Beruf, kulturellem Background und Alltag. Ziel ist es, Gesundheitswissen auf Augenhöhe zu vermitteln und Handlungskompetenz zu fördern.
Prof. Dr. Orkan Okan, Leiter des WHO Collaborating Centre for Health Literacy an der TUM, sieht darin einen zentralen Hebel: „Gesundheitskompetenz ist ein Schlüssel zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten“ – am besten gefördert frühzeitig und lebensbegleitend.
Maßnahme 4: Regionales Gesundheitsjahr
In Zusammenarbeit mit Kommunen, Betrieben und sozialen Akteuren entwickeln wir für die GB|Work-Plattform regionale Gesundheitsjahre. Im Fokus: niedrigschwellige, vertrauensvolle Prävention vor Ort – mit Gesundheitsbotschafter*innen, teilnehmenden Unternehmen, lokalen Gesundheitsanbietern und lebensnahen Mitmachaktionen.
Fazit: Tu was – für gerechte Gesundheit
Bianca Flachenecker bringt es auf den Punkt: „Health Equity ist nicht nur ein ethisches Gebot – es ist auch ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial, das bisher nicht ausreichend genutzt wird“.
Und genau hier setzen wir an:
- mit einfachen Zugängen
- mit Programmen, die sich an echte Lebenswelten anpassen
- mit einem klaren Ziel: Gesundheit soll kein Zufall und kein Privileg sein – sondern eine gestaltbare Realität für alle.
FAQs zu Health Equity
Ist Health Equity nicht einfach ein anderes Wort für soziale Gerechtigkeit?
Nicht ganz. Health Equity fokussiert sich konkret auf gesundheitliche Unterschiede – und wie wir sie gezielt verringern können.
Warum ist das Thema für Unternehmen relevant?
Weil Gesundheitsmaßnahmen nur dann wirksam sind, wenn sie tatsächlich genutzt werden. Und das gelingt nur, wenn sie verständlich, erreichbar und passgenau sind.
Wie kann man Prävention alltagsnäher gestalten?
Indem man Angebote vereinfacht, digitale und reale Zugänge kombiniert und Lebensphasen aktiv mitdenkt – z. B. über den Health Guide oder regionale Aktionen.
Wo anfangen, wenn man das Thema angehen will?
Mit Zuhören. Zielgruppen verstehen – und dann bewusst Formate anpassen. Der größte Hebel liegt oft im Kleinen.
Ist das nicht alles sehr aufwändig?
Nein – es braucht keine riesigen Budgets, sondern Haltung, Offenheit und Gestaltungswille. Oft machen schon einfache Änderungen den Unterschied.
Quellen
Flachenecker, B. (2023): Gesundheit gerecht gestalten: Warum Health Equity mehr ist als ein soziales Ideal. Interview und Fachbeiträge, z. B. auf Gesundheitsmanagement.info.
Flachenecker, B. (2024): Health Equity im deutschen Gesundheitssystem – Potenziale erkennen, Versorgung gestalten. Springer Gabler, Wiesbaden.
PAHO/WHO (2023):Health Equity. https://www.paho.org/en/topics/health-equity
Okan, O. et al. (2021): Health Literacy: Schlüssel zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten. In: Bundesgesundheitsblatt 64(9), S. 1041–1047.
https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03390-7
Technische Universität München (TUM), WHO Collaborating Centre for Health Literacy:
https://www.sg.tum.de/whocc-healthliteracy/
Robert Koch-Institut (RKI) (2023). Gesundheitliche Ungleichheit und Chancengleichheit.
https://www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/G/Gesundheitliche_Ungleichheit/Gesundheitliche_Ungleichheit_node.html
World Health Organization (2023). Health Equity.
https://www.who.int/health-topics/health-equity
WHO Europe (2021): Health Equity Status Report Initiative (HESRi).
https://www.who.int/europe/initiatives/health-equity-status-report-initiative